Im März 2011 erschien die Anthologie Zwischenwelten-Kabinett, das erste Projekt des neu gegründeten Schauermärchen Verlags. Mein Beitrag zu dieser Sammlung von Texten mit Gruselfaktor ist die Kurzgeschichte "Das Jürgenson-Experiment".

 

Die Tante der Zwillinge Olivia und Jacob ist spurlos verschwunden. Es gibt die verschiedensten Theorien über ihren Verbleib, aber Olivia will es genau wissen: Sie überredet Jacob zu einem Tonband-Experiment, um Kontakt zu der möglicherweise Verstorbenen aufzunehmen.

 

Das Ergebnis ist verstörend - und Tante Gisela scheint weitaus mehr zu wissen, als Jacob lieb ist.

 

Leseprobe aus "Das Jürgenson-Experiment":

 

„Hast du noch ein leeres Band?“, fragte Olivia in diesem Moment.
„Hm? Ja, wieso?“, erwiderte ich zerstreut.
„Ich will was ausprobieren“, sagte sie. „Leg doch mal eins rein.“
„Wie − jetzt? Es ist elf Uhr!“, protestierte ich.
Olivia zuckte nur die Achseln. Stöhnend und augenverdrehend, um meinem Widerwillen Ausdruck zu verleihen, zog ich eine meiner noch eingeschweißten Leerkassetten aus dem Regal, rückte der Folie mit meinem Brieföffner zu Leibe und schob das Band in den Kassettenschacht des Radiorekorders. Anschließend schloss ich auf Olivias Wunsch mein externes Mikrofon an das Gerät an und drückte die Aufnahmetaste.

 

„So. Und jetzt?“, sagte ich bewusst genervt.
„Jetzt versuchen wir, Kontakt mit Tante Gisela aufzunehmen“, erklärte Olivia. Es klang nicht anders, als wenn sie gesagt hätte: „Jetzt spielen wir eine Runde Cluedo.“ Ich vergaß meinen demonstrativen Widerstand und riss die Augen auf. „Hä?“

Olivia lächelte entspannt. „Setz dich hin. Wir unterhalten uns ein bisschen. Wir machen das Jürgenson-Experiment.“
„Was soll das denn sein?“, fragte ich beunruhigt.
„Tonbandstimmenforschung“, erklärte Olivia immer noch lächelnd.
„Was?“ Selbst in dieser einen Silbe gelang es meiner Stimme, sich zu überschlagen.

 

„Jetzt stell dich nicht so an“, drängte Olivia, deren Lächeln einem strengen Zusammenziehen der Augenbrauen wich. „Hast du die Hosen voll oder was? Wir brauchen uns nur zu unterhalten und das Band mitlaufen zu lassen. Und hinterher hören wir uns das an und sehen, ob Tante Gisela sich dazu äußern will.“
Mein Herz klopfte viel zu schnell für diese Tageszeit. „Ist das so eine Art Geisterbeschwörung?“, wollte ich wissen. Aber Olivia schüttelte den Kopf. „Das ist ein wissenschaftliches Experiment“, sagte sie wichtig. „Nach Professor Jürgenson. Der hat das schon Hunderte Male gemacht. Aber du musst jetzt mal ein bisschen locker werden, sonst funktioniert das nicht. Erzähl mir einfach mal, was du glaubst, wo Tante Gisela abgeblieben ist.“